Leipzig-Liebertwolkwitz Oktober 1813

Zwei Wochen sind vergangen seit meinen Erlebnissen in Wartenburg. Ich habe meine Einheit wiedergefunden, und wir stehen südlich von Leipzig, in
Liebertwolkwitz. Das Dorf ist voller Soldaten, Preußen, Russen,
Österreicher, Sachsen und wir Franzosen. Außerdem nichtmilitärisches
Gelichter, geflüchtet vor den Russen aus dem Ostsächsischen. Am Freitag im
Dunkeln gelange ich in dem Dorf an. Mein Befehl lautet zur Kommandantur,
doch unterwegs begegnen mir altbekannte sächsische Kameraden. Keine
Kommandantur hat geöffnet, aber meine Kameraden fände ich im Gasthof oder bei der Marketenderin. Das sagt eine, die es wissen muss, Karen, selbst
Marketenderin, und nun kenne ich sie schon 20 Jahre. Also gehe ich zum
Gasthof, und im Innenhof um ein Feuerchen stehend treffe ich sie wieder.
Johlend begrüßen sie mich und erzählen mir die Erlebnisse der letzten
Wochen, als sie ohne mich im Thüringischen herumstiefelten. Hier begrüßt der Platzmajor die Ankömmlinge noch persönlich mit Handschlag, die Kommandantur muss nicht mehr aufgesucht werden. Aus meinem Tornister hole ich eine Flasche Wein, und die Stimmung ist noch besser. Man will heut noch mal Feiern, weiß nicht, ob man morgen noch die Gelegenheit dazu haben wird. Wir singen Lieder, tauschen Höflichkeiten mit den Preußen und Nettigkeiten mit unseren Verbündeten Sachsen aus. Meine jungen Kameraden denken nur an das hier scharwenzelnde Weibsvolk, denn die leichte Infanterie ist begehrt bei den Mädchen. Vermutlich wegen der schicken Uniform. Mit uns wärmt sich eine Romy am Feuer, auch sie geflüchtet aus dem ostsächsischen Fischbach vor den Russen und ihren fremden Völkerschaften. Auch sehe ich einen alten russischen Major vom Preobrashenski Polk wieder, mit dem ich schon vor 15 Jahren
Bekanntschaft hatte. Es ist ein wahrer Völkerball, und wir wissen noch
nicht, was uns bevorsteht. Einige Flaschen Wein später liegt unser Peleton
schnarchend in einer Scheune. Es ist zugig und kühl, doch das Stroh ist
trocken, und im Biwak wäre es sicher wenig bequem. Ich rolle mich in eine
Decke zwischen Carteaoux und La Force, und sehr schnell übermannt uns alle der Schlaf.

Es ist noch dunkel, als uns Sergeant Delarue mit lieblichen Worten weckt und
aus der Scheune treten lässt. Wir sind nicht mehr viele, ein Dutzend. Die
übrigen sind geblieben, erst in Italien, in Österreich, in Preußen, dann in
Spanien, und jetzt, auf diesem Feldzug liegen die Knochen unserer Brüder bei Lützen, bei Freden und bei Kulm. Wir brauchen endlich Frieden, und der
heutige Tag kann ihn uns bringen.
Der Platzmajor persönlich kümmert sich darum, dass wir als die ersten bei
der Essensausgabe (getreu der Weisheit "Der frühe Vogel deckt den Tisch")
unsere Ration bekommen. Leberwurstbrötchen, Tee, Brezeln. Unsere sächsischen Verbündeten wissen, was ihnen die Freiheit wert ist, und wir werden ihre Freiheit mit unserm Blut gegen die Völker aus dem Osten verteidigen. Müssen.

Die Artillerie hat keine Patronen für uns gedreht. Nun müssen wir selbst
unseren Nachschub organisieren, munitionieren auf und exerzieren nach der
inspection des Armes noch einige Handgriffe, um uns aufzuwärmen. Die Sachsen marschieren ab, und auch wir brechen etwas später auf, an unseren Fersen die Grenadiers der 22é. Unser Marsch führt uns über Wachau nach
Markkleeberg. Dort hat General Reuß-Franke seine Truppen konzentriert und ist sichtlich erfreut über jede Verstärkung. Auch sorgt er für unsere
Stärkung. Auf den Stufen des Schlosses von Markkleeberg sitzend gibt das
Gewimmel der bunten Uniformen ein wunderbares Bild. Hier gibt es Polen, die mit uns gegen die Russen stehen, und die hiesigen Franzosen sind
verschiedenster Zunge, ist doch unser Kaiserreich inzwischen ein Gebilde,
das Rom und Lübeck gleichermaßen umfasst.

Aufbruch. Soll es einen Appell geben? Der General hält eine Ansprache. In
wenigen Worten will er uns motivieren, aber es gibt einen Grund, warum wir
hier sind. Weil es der Kaiser so wünscht, und deshalb werden wir siegen.

Nach wenigen Augenblicken Marschs sehen wir ein Dorf. Vor kurzem muss es hier eine Feier gegeben haben, aber die Bevölkerung scheint sich vor den
Armeen flüchten zu wollen. Der General schickt unser Peleton zur Recognocierung zu Kirche und Friedhof. Das Dorf ist unbesetzt, also besetze
wir es. Wir nehmen unsere Position auf dem Friedhof ein. In der Ferne sind
Preußen zu hören. Ein eigentümlicher Trommelschlag, und wir erkennen
schwarze Uniformen. Was wird uns der Tag bringen?
Wir geraten unter Beschuss. Britische Artillerie muss es sein, denn neben
uns schlagen Raketenüberreste aus dem Himmel. Ich nehme Deckung hinter der Eingangssäule zum Friedhof, da wird diese von einer Rakete getroffen. Wir überlegen, ob sich eine solche Rakete auch aus einer Muskete abfeuern lässt, in die Gegenrichtung, wie ein Ladestock. Aber wir haben nicht den Auftrag die Raketenbatterie zu beunruhigen, sondern gehen gegen Lützower vor, die hier noch nichts zu suchen haben.

Endlich holt uns Sergeant Delarue, er hat Anweisung vom General, den
Aufmarsch der Preußen zu behindern. Es gibt zwei Furten, in denen ein
Flüsschen hier überquert werden kann. Wir gehen ins Unterholz und spüren
sofort, dass die Kavallerie unsere Furt nicht benutzen werden kann, das
Unterholz ist zu dicht. Eine Pontonbrücke liegt da, um unsere Flucht zu
ermöglichen. Nun ist die Zeit gekommen, mit meinen Brüdern beten wir zum
Herrn, er möge uns aus der Schlacht sicher nach Haus führen und auch Delarue und Charpentier schließen wir in unsere Bitte ein. Der Gegner jedoch kommt nicht, er hatte uns umgangen und wir haben wenige Minuten Ruhe, bis wir uns langsam zurückziehen. Dann sehen wir die preußische Kolonne anmarschiert kommen. Vorweg ebenfalls leichte Infanterie, Jäger, mit denen wir uns engagieren. Um eine größere Truppenmenge vorzutäuschen, stehen wir in Linie in ganzer Wegesbreite und ziehen uns schießend sektionsweise zurück. Eine Hauptbrücke liegt noch auf dem Anmarschweg ins zu haltende Dorf. Beunruhigt bin ich jedoch, als ich sehe, dass die Grenadiers der 22é uns den Rücken freihalten. Ich frage Rottiseur, ob hinter uns schon der Feind sei, weil ich ihn ohne Brille nicht sehen kann. Der Grenadier schaute zurück und meinte nur, er ignoriere die Preußen lieber. So kenne ich die Grenadiere. Stumpf und träge im Denken, aber wenigstens groß und mächtig als Kugelfang.
Inzwischen reißen unsere Leute die Brücke ab, so dass die nachrückenden
Preußen und Russen tatsächlich aufgehalten sind.

Delarue lässt uns sammeln, wir sind noch ohne Verluste. Dann führt er uns
dem General zu. Für mich als Betrachter hat es inzwischen das Gefühl, es
gäbe nur 2 Flügel, aber kein Zentrum und keine Reserve. So stellt man unsere Kompanie dorthin, wo sonst ein Bataillon stehen müsste, und wir halten den Angriffen der auf anderen Wegen eingetroffenen preußischen Kavallerie kaum stand. Diese reiten zwar keine Attacken, sind uns aber zahlenmäßig weit überlegen, zumal sich bei uns neben Munitionsmangel auch der Mangel an Feuersteinen bemerkbar macht. Unsere Salven werden nur noch zu flackerndem Einzelfeuer, und der nachdringende Feind jagt uns mit dem Bajonett. Da heißt es auch noch, unsere sächsischen Verbündeten wären zum Feind gewechselt, die Sachsen, für die wir uns hier schlugen. Wir können es nicht glauben. Doch irgendwann haben wir nur noch die Wahl uns Preußen oder Russen zu ergeben.
Wir wählen Preußen, lieber die Uckermark als Sibirien.

Der Rückmarsch führt uns, wie es der Zufall will, wieder nach
Liebertwolkwitz, und in der selben Scheune sind wir wieder einquartiert. Zu
uns verirrt sich auch Robin, derzeit im Lazarett, und er bringt uns einen
Kuchen samt Bäckerin. Die letzten Weinreserven kreisen, und wir erzählen uns die Erlebnisse der letzten Tage. Im Nachbarhof liegt ein sächsisches
Bataillon. Der Unteroffizier dort murrt am Lagerfeuer: "Ich hab es meinen
Leuten untersagt, zu desertieren. Nicht zu denen! Von uns ist keiner
gegangen." Der alte Haudegen hat nicht vergessen, wie Sachsen von Preußen
bis 1806 misshandelt wurde.

Gegen Mitternacht herrscht Ruhe in Liebertwolkwitz, nur aus einem
Feldbordell und anliegender Kneipe tönt Lärm. Die Soldaten schlafen, und
auch bei uns schnarchen die Kerle durcheinander, bis vor dem Morgengrauen der Sergeant ruft "Raustreten zum Morgenappell.

  

Henri Domperignon-Lafitte